⇒ jungle.world – Marxistische Schrumpfkur
Christian Hofmann, Marxistische Schrumpfkur – eine Kritik an Kohei Saitos Konzept des Degrowth-Kommunismus, Jungle World, 5. Oktober 2023.
Viele halten sich für gebildet, weil sie etwas mit Begriffen wie Nachhaltigkeit, Achtsamkeit oder Ganzheitlichkeit anzufangen wissen. Dieser Artikel gibt eine Ahnung, dass man sich mit dieser Einschätzung täuschen kann. Ohne Totalitätsbegriffe, die sich aus einer zeitgemäßen Lesart der „Kritik der Politischen Ökonomie“ ergeben, bleibt die Welt unverstanden; wer Erkenntnis sucht, kommt an einem Begriff wie „Wert“ nicht vorbei.
Der Autor Christian Hofmann weiß das und kritisiert das in Japan massenhaft gelesene Buch „Systemsturz“, in welchem der marxistische Philosoph Kohei Saito eine Reduzierung von Konsum und Produktion fordert. Zwar lege Saito komplexe Sachverhalte gut dar und erkenne auch die desaströse und endlose Selbstzweckbewegung, aus Geld mehr Geld machen zu müssen, will das System nicht zusammenbrechen. Aber je tiefer Saito in die Materie eindringt, desto unschärfer würde er. Hofmanns Kritik an Saitos Buch mündet in den nur für Kritische Theoretiker zugänglichen Satz: „Die Arbeit als Substanz des Werts wird nicht berücksichtigt“.
Lesen wir kurz weiter in den Artikel rein: “ […] Der Begriff Wert taucht nur noch als Zerrbild der Marx’schen Analyse auf. […] Saitos Anliegen, die Marx’sche Theorie aus den Fängen des Produktivismus zu befreien, ist dringend geboten. Erst recht gilt dies für sein Bestreben, klarzustellen, dass kapitalistischer Überfluss nicht mit Freiheit oder Wohlstand verwechselt werden darf. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass das Buch zumindest Diskussionen über diese zentralen Einsichten befördert.“
Was lernt ein Leser, der mit solchen Problematisierungen nie etwas zu tun hatte? Will man Erkenntnisse bekommen und das übliche Gerede einzuordnen und abzustrafen wissen, kommt man an der Wertkritik, die Hofmann in seinem Artikel nur anschneiden kann, nicht vorbei. Ohne ein Verständnis der Totalitätskategorie Wert kann man nichts neues schaffen, sondern lediglich wiederholen.
Zwei Links des Monats September 2023
⇒ jungle.world – Blick zurück nach Süden
Jens Kastner, Blick zurück nach Süden, Jungle World, 31. August 2023.
Die Geschichte der Linken ist ohne ihre Theoriegeschichte nur fragmentarisch zu verstehen. War man in der Theorie lange unterwegs, erträgt man sie in aller Regel nur noch über Sekundärliteratur, die ohne Umschweife auf den Punkt kommt. Dieser Artikel über Antonio Gramsci (1891-1937) ist ein einziger Punkt – vergesst die Systematik des entsprechenden Wikipedia-Artikels. Die von Gramsci geprägten Begriffe „Subalterne“ und „kulturelle Hegemonie“ können vom Leser in ihrer ganzen Reichweite sofort erschlossen werden. Der Hinweis zu Gramscis „Gefängnisheften“ geben dem Leser eine Ahnung, wie seine persönliche Leidensgeschichte ihn geistig beeinflusst haben mag, und die Rolle, die Gramsci den Intellektuellen zuschreibt, zeigt, dass es in der Hochzeit leninistischer Berufsrevolutionäre interessante gedankliche Angebote für einen undogmatischen Linken gab.
⇒ Absurdes Theater: Alle Merkmale, Definition und Stücke (xn--prfung-ratgeber-0vb.de)
Prüfungsratgeber, 4. September 2023.
Auch ein Lernportal kann Spaß machen. Was ist absurdes Theater? Die Zuschauer sollen die Sinnlosigkeit des Lebens und die Absurdität der Welt erkennen. Es macht frei, sich immer mal wieder an seine Wahrheiten zu erinnern. Die Christen tun das jeden Sonntag.
Link des Monats August 2023
⇒ Russland: Das Debakel in Afghanistan ist unvergessen (nzz.ch)
Ulrich Schmid, Von Russland geht ein Gespenst um: die Erinnerung an die Schmach von Afghanistan, Neue Zürcher Zeitung, 4. Juli 2023.
Nur Grusel: Vom Zarismus zum Stalinismus zum Putinismus; dazwischen Phasen der Hoffnung. Der Artikel räumt auf mit den Geschichtsrevisionen Putins, ausgehend vom Debakel in Afghanistan. „Der Westen könnte sich noch wundern, wie schnell das Volk von Putin und seiner kriegslüsternen Kamarilla abrückt, wenn ihm das Wasser zum Hals steht“, heißt es im Artikel.
Zwei Links des Monats Juli 2023
⇒ Ostermarsch-2023-Russland-raus-aus-der-Ukraine-1.jpg (481×460) (emafrie.de)
Lothar Galow-Bergemann, Vorschlag für ein Plakat zum Krieg gegen die Ukraine, 2023.
Wie traditionelle Grafik mit zwei richtigen Forderungen gut harmonieren kann …
⇒ Stoizismus in der Gegenwart – Die Stoa als moderne Lebensphilosophie (stoa-heute.de)
Die Website stoa-heute.de ist schon in ihrem Design stoisch, man kann die klare Gestaltung genießen; dass die Texte in der Regel recht kurz sind, passt dazu. Stets begegnet man Epiktet, Mark Aurel und Seneca, also den klassischen Helden der Stoa. Kritik und Stoizismus passen gut zusammen, von daher ist es unverständlich, dass man auf der Website keine substanziellen Verbindungen zur Frage der Bedeutung von gesellschaftlichen Verhältnissen findet. Das wäre dann so etwas wie ein linker Stoizismus. Tipp: Anfangen mit der Rubrik „Gewinne Abstand von deinen Problemen“ (Startseite runterscrollen).
Zwei Links des Monats Juni 2023
⇒ Narzissmus als Norm. Psychische Deformation in der spätkapitalistischen Gesellschaft
Peter Samol, Narzissmus als Norm. Psychische Deformation in der spätkapitalistischen Gesellschaft, Krisis, 2019.
Seit den Nullerjahren gibt es die Narzissmus-Welle; bei persönlichen Verwerfungen wird schnell zum Narzissmus-Vorwurf gegriffen.
Für den Autor ist Narzissmus eine Reaktion auf die Angst, im Kapitalismus zu scheitern. Erfolgreich seine Ware Arbeitskraft zu verkaufen, sei in unserer Gesellschaft höchstes, unbewusstes Gut. Die in der bürgerlichen Kleinfamilie gelernte Aufstiegsorientierung würde im postfordistischen Zeitalter der allgemeinen Zukunftsunsicherheit zur Manie – Narzissmus sei die logische seelische Deformation der heutigen Zeit.
Sodann agiert der Autor mit Sätzen, die es sich lohnt, zwei Mal zu lesen: „Die Individuen tun alles, um das Gefühl (des immer möglichen Abstiegs) zu verdrängen, denn es fühlt sich an wie ein Todesurteil.“ „Aus dem Verkauf der Arbeitskraft wird zunehmend der Verkauf der eigenen Persönlichkeit.“ „Ein solches Leben korrespondiert mit intensiven Gefühlen von Leere und von fehlender Authentizität.“
Man sollte diesen Aufsatz nur lesen, wenn man geübt ist in der Verdauung radikaler Gesellschaftskritik. Sonst meldet sich beim Leser Ohnmacht. Der Autor agiert auf Grundlage der Erkenntnisse der kritischen Theorie zur Psychoanalyse und der Erkenntnisse der wertkritischen Arbeitskritik (vgl.: Manifest gegen die Arbeit). Dass Arbeit selbst in der Form der Lohnarbeit nicht immer als Ungetüm empfunden wird, sondern zuweilen auch als sozialer Konstituierungsprozess und als lebenswerte betriebliche Identität, ist bei radikalen Arbeitskritikern lediglich auf das falsche Bewusstsein der Lohnarbeitenden zurückzuführen – mit dieser Radikalität gibt es wenig Raum für Zwischentöne. Selbiges merkt man auch diesem Aufsatz an.
⇒ jungle.world – Engere Grenzen
Jörn Schulz, Engere Grenzen, Jungle World, 1. Juni 2023.
Wer das staatliche Gewaltmonopol ausschließlich als eine zivilisatorische Leistung sieht, wird hier möglicherweise zum Nachdenken gebracht. Der Autor schreibt mit einem feinen Hass auf den Kapitalismus, so heißt es im Untertitel seines Artikels: „Was interessiert mich der Dax …“ Dass Militanz sinnige gesellschaftliche Entwicklungen nach sich ziehen kann, glaubt der Autor am Beispiel der militanten Anti-AKW-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre zu sehen: Ohne sie hätten wir heute immer noch eine Zukunft mit Atomkraftwerken.
Zwei Links des Monats Mai 2023
⇒ https://www.streifzuege.org/2023/die-sorge-um-mich/
Reimer Gronemeyer, Die Sorge um mich … Mein Ende und das Ende der Welt: das radikalisierte Individuum, Streifzüge 86, 2023.
Der 83-jährige Autor sorgt sich angesichts seiner näher rückenden Endlichkeit um den gesellschaftlichen Umgang mit den Schwachen, explizit den Alten. Die Probleme lägen tiefer als lediglich in der Frage der materiellen Ausstattung von Altenheimen und Hospizen; das Problem sei, dass auch die Altenpfleger oft ein „radikalisiertes Individuum“ sind, das „die Welt nur als Ressource zur Befriedigung seiner Bedürfnisse sieht“ – die Hospizbewegung müsse sich an ihre „zivilgesellschaftlichen Wurzeln“ erinnern, sie brauchte Menschen, die sich „von Natur aus“ sorgen. Der Autor stellt Kontexte zur globalen ökologischen Krise her.
⇒ magazin (magazinredaktion.tk)
Das konspirationistische Manifest, 2022.
Wer Lust hat, etwas richtig abgedrehtes zu lesen, der ist hier richtig. Verschwörungstheoretisches in Potenz; eine Mischung aus Verfolgungswahn und Welterklärung – nur die ehemalige „Marxistische Gruppe“ (heute Zeitschrift Gegenstandpunkt) verstand diese spezifische Form der Todesangst besser. Blind lesen sei empfohlen, man sollte nicht jeden Satz verstehen wollen – hinter dem Geschriebenen steht keine hohe Komplexität, sondern geistiges Durcheinander.