Einmal im Monat sollst du hier schauen
ob ein‘ neuen Link du willst verdauen
Ich werd‘ dich nicht zwingend mit etwas Aktuellem verlinken
kann sein, dass du triffst eher auf einen richtig alten Schinken
Vergiss zu glauben, seist voll Bildung
weil du manisch liest ganz doll Zeitung
„Wir informieren uns zu Tode“, hieß es schon vor Dekaden
und „Fakten, Fakten, Fakten“ könn‘ sogar richtig schaden
stattdessen zieh dir lieber rein
das Hiesige bei einem Wein
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Link des Monats April 2025
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Link des Monats März 2025
⇒ Trump als Ausdruck der fundamentalen Krise
Tomasz Konicz, Alles muss in Flammen stehen!, 15. März 2025.
„Es gibt kein ökonomisches Fundament mehr für stabile Hegemonialsysteme, die im Kapitalismus nur bei ausreichend breiter Verwertung von Arbeitskraft in der Warenproduktion bestehen können.“
Je mehr man über Spießbürgerlichkeit nachdenkt, desto mehr findet man davon auch bei sich selbst, wusste Oscar Negt in seinem fulminanten Buch „Achtundsechzig“. Richtig, aber das macht die Kleinbürgerlichkeit nicht besser. Auch wenn das politische Begriffsinventar der traditionellen Linken weitgehend obsolet geworden ist, so bleiben die angestammten kulturkritischen Begriffe oft aktuell: Spießbürgerlichkeit zeigt sich auch in der Haltung, jeder gedanklichen Anstrengung zur Form der Gesellschaft, aus dem Weg zu gehen.
Obiges Zitat eröffnet ein Angebot zur Form. Das Zitat steht kurz unter der Zwischenunterschrift „Ja, Panik“.
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Link des Monats Februar 2025
⇒ Epikur – mehr als nur Kulturkritik, Bayern 2, 2014.
Wer darunter leidet, nicht mit sich selbst telefonieren zu können, der muss nicht zwingend einen Dachschaden haben. Mitunter ist das lediglich ein Ausdruck der „Arroganz des Klügeren“ (Max Weber).
Diesbezüglicher Kontext wurde schon in der Schule des Epikureismus in der Antike erläutert, klar, ohne Telefon. Was könnte man wissen wollen über Epikur? Obiges Radiofeature macht ein Angebot. Unter dem Schwerpunkt Konsum- und Religionskritik transportiert die Sendung den Epikureismus in unsere Zeit.
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Links des Monats Januar 2025
⇒ Newzorow über die Unfähigkeit Russlands, Schmerz zu empfinden.
Russland Watch, 23. Januar 2025 (Ausschnitt aus der Sendung „Ekstrakt“ vom 6. Dezember 2024).
„Alptraum Russland“ könnte die passende Überschrift für alle Statements des Dissidenten Alexander Newzorow sein, er kommt hier bereits das dritte Mal zu Wort. Mögen es bald an die eine Million Russen sein, die infolge der Aggression gegen die Ukraine ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren haben, nach Newzorow stört das niemanden in Russland, denn für die Geschichte des Landes sei das eher normal. Bitternis paart sich bei Newzorow mit Fatalismus, er sieht die russische Opposition schlecht aufgestellt.
Newzorow kommt in seiner Verachtung für den Zarismus-Stalinismus-Putinismus ausgesprochen vornehm daher, man könnte sagen in Oscar-Wilde-Manier. Kann sein, dass er für seinen Grabstein mal die Inschrift wählen wird: „Ich hasse euch alle!“ Auf Latein.
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⇒ Keimform
Bennie Bärmann, Was ist eigentlich eine „Keimform“?, 2007.
Der Typus des sozialtechnisch-autoritären Ingenieurs unter linken Theoretikern polemisiert zuweilen gegen Menschen, die ein besseres Leben in Nischen suchen (eine mögliche Strategie: Junge sei schlau, geh‘ in Überbau) und sich mit ihrer warengesellschaftlich beeinflussten Subjektivität in Ruhe lassen können. Wer es versteht, sich mit dieser sophistischen Taktik das Leben leichter und reicher zu machen, der ist in den Augen des sozialtechnischen Theoretikers entweder ein Stirnerianer oder ein Lump.
Es geht auch anders. Die Welt der Kritik von falscher Arbeit und Fetisch Geld ist groß; der Keimform-Ansatz empfiehlt, das Gute im Alten zu suchen.
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⇒ forever young | Power Eiweiß & Nahrungsergänzung von Strunz
Man muss nicht unentrinnbar im Falschen leben, um zu verzweifeln; dafür reichen völlig die Grundbedingungen der menschlichen Existenz. Damit sich die Verzweiflung in Grenzen hält, kann die Stärkung der hedonistischen Antriebskräfte wie auch das Weglaufen in der Form des Joggens sinnig sein.
Sozusagen reaktionär werden Hedonismus und Joggen, wenn sie dem monetären Erfolg untergeordnet sind und das Elend dieser Welt ausblenden. Dafür steht der Fitness-Guru und Laufpapst Ulrich Strunz. Eins seiner Bücher zeigt ein Foto, wie er in seiner Villa seine drei Kinder mit strengen Blick beim klassischen Musizieren bewertet – seine Kinder sollen lernen, dass es der Selbstzurichtung bedarf, wenn man auch mal eine Villa haben will.
Der Link zeigt Strunz Firma in Höchstform: Die Preise dürften überdurchschnittliche Gewinnspannen ermöglichen, die Werbung arbeitet teilweise mit Begründungssätzen aus der Esoterik.
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Links des Monats Dezember 2024
Martin Gohlke, Ekel und Emanzipation, in: Lichtwolf 54, 2016.
Dass Melancholie zu einer Haltung der Unterwerfung führen kann, konstatierte schon Walter Benjamin. Sich zu ekeln, hilft gegen diese Selbsterniedrigung, aber richtig ekeln muss man können; der Essay „Ekel und Emanzipation“ sagt mehr dazu.
Keinen großen Unterschied zwischen selbst gewählter Untertänigkeit und Anpassung machen die Gäste im Grand Hotel Abgrund; zum Begriff der Gesellschaft gehört jedoch immanent die Anpassung. Ob man hier nur die Freiwilligkeit akzeptiert, ist letztendlich eine Frage des Menschenbildes.
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⇒ Newzorow über die Vorlesung von Alexander Dugin an der Moskauer Staatsuniversität
Russland Watch, ~ 20. Dezember 2025 (Ausschnitt aus der Sendung „Ekstrakt“ vom 16. Dezember 2024).
Der Dissident Alexander Newzorow hat die Schnauze voll von Russland. Dabei macht er in seinen Statements nur wenig Gebrauch von seinen analytischen Fähigkeiten; weder hat er Lust, sich mit irgendjemanden auseinanderzusetzen, noch sich zu rechtfertigen – er will dieses Russland einfach nicht mehr. Schimpfen ist ihm Überlebensstrategie.
„Der Krieg (gegen die Ukraine) ist der Krieg des Himmels gegen die Hölle“, lässt Newzorow am Ende des Videos den putinistischen Moskauer Star-Professor Alexander Dugin zu Wort kommen. Mit dieser Äußerung erklärt Dugin den russischen Angriffskrieg zum heiligen Krieg. Newzorow kommentiert: „Dugin predigt somit den russischen Faschismus.“
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Der Sticker des Netzwerks „Emanzipation und Frieden“ wendet sich gegen das Selbstverständnis des radikalen Flügels der längst gescheiterten traditionellen Linken. Das Engagement des seit 2009 existierenden antiautoritären Netzwerks, sich nicht abzugewöhnen, eine von der selbstzweckhaften Geldvermehrung befreite Gesellschaft für möglich halten zu wollen, ist beindruckend. Wie lautet das Rezept, eine solche Hoffnung zu pflegen?
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Links des Monats November 2024
⇒ Warum der neue Moralismus gefährlich ist
Peter Engelmann, Woke-Kultur, Neue Züricher Zeitung, 8. Mai 2023.
Muss man zwingend wissen, was „Woke“ bedeutet? Natürlich nicht, Fußball kann wichtiger sein (unvergessen: Newcastle United v Liverpool (1901)), aber wer mit zumindest einem Ohr die gesellschaftlichen Debatten wahrnimmt, der kommt an dem Begriff nicht vorbei.
Woke bedeutet in seiner ursprünglichen Definition, wach zu sein, wenn man in seinem Umfeld Diskriminierung beobachtet – in der Praxis kann es zu grotesken Übertreibungen kommen. Engelmann bemüht für eine nähere Betrachtung die Begriffsgeschichte genauer, sucht zudem Rat bei dem Philosophen Derrida und folgert: Es lebe die Toleranz und die Vielfalt, aber keinen Index für richtige Sprache und korrektes Verhalten!
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⇒ EXIT! Kritik der Warengesellschaft
Robert Kurz, Subjektlose Herrschaft, 1993.
Die Unfähigkeit, sich halbwegs einen Reim auf diese Welt zu machen, begünstigt Ressentiments und Verschwörungstheorien. Fast alle Menschen scheinen ohnmächtig zu sein; am Horizont zeigt sich nirgendwo die befreiende Frage, warum trotz immer besserer Möglichkeiten, ein gutes Leben für alle zu schaffen, die gesellschaftlichen Probleme immer fundamentaler werden. Das Unterbewusstsein wehrt sich gegen eine ernsthafte Beschäftigung mit dieser Frage, es ahnt, dass die Konsequenzen eine Ohrfeige für alles wäre, was man so meint und denkt und dahin plappert. Wer will das schon, sich eingestehen zu müssen, das alles ziemlich falsch ist, was man so zu wissen glaubt. Lieber entlastet man sich emotional, indem man Schuldige sucht und findet; man hört lieber weg, wenn einem ein Ausdruck wie – siehe oben – „subjektlose Herrschaft“ begegnet. Die Volksseele weiß nicht wohin mit der Ahnungslosigkeit, der Autoritarismus ist ihr Anker; wir leben in einer weltweiten Metternich-Ära.
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Das dialektische Denken ist geübt darin, Widersprüchen aus dem Weg zu gehen; gleichzeitig zwingt es jeden, sich mit der eigenen Position kritisch auseinanderzusetzen. Zwei Seiten eines Begriffs. Wer mehr wissen will über eine Denkweise, die zur Realsatire auf Höhe des Monty Python-Niveaus einlud („Das muss man dialektisch sehen“), schaue bei Wikipedia.
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Links des Monats Oktober 2024
Der Wert ist das Hintergrundrauschen der warenproduzierenden Moderne; er ist mehr ein Hintergrundrauschen als eine Matrix, denn eine Matrix kann man berechnen, den Wert nicht. Der Wert steht bei entsprechender Lesart als Leitbegriff der „Kritik der Politischen Ökonomie (Volkswirtschaftslehre)“.
Mit der Totalitätskategorie Wert kann man viele Gegebenheiten der neuzeitlichen Welt besser erklären. Selbiges sehen nicht alle so, der Begriff Wert ruft Skeptiker auf den Plan wie auch Positivisten, die Totalitätskategorien als letztendlich unwissenschaftlich ablehnen.
Im obigen Artikel, der 20 Jahre alt ist, hat der Autor das Wesentliche zum Begriff Wert festgehalten. In den seit zwei Jahrhunderten existierenden Theoriekreisen der politischen Linken spielt der Begriff erst seit den 1980er Jahren eine nennenswerte Rolle. Es entstand als eigenständige Denkrichtung das Label Wertkritik mit den Publikationsorganen Krisis, Exit und Streifzüge. Es blieben Biotope; nur in Ausnahmefällen verstehen es die produzierten Texte, neue Leser anzusprechen.
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⇒ Best guitar solo ever, Keith Richard
„Best guitar solo ever“, heißt es zum Video. Darüber kann man streiten. Es gibt noch 23 andere Gitarrenriffs, die allesamt um diesen Titel wetteifern. Aber eins haben sie gemeinsam. Sie sind alle von Keith Richard.
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Link des Monats September 2024
Russland zerstört, China entwickelt. Sollen alle politischen Systeme, die sich nicht an der Ideenwelt der europäischen Aufklärung orientieren, in ein- und denselben Topf „Autoritarismus“ geworfen werden? Oder lohnt sich ein Blick auf die Differenzen? In den 1980er und 1990er Jahren könnte China die „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ (Marx) durchlaufen haben, danach wurde in Rekordzeiten der Anschluss an die warenproduzierende Moderne geschafft. Für die Fortschritte hatten viele Chinesen einen Preis zu zahlen, aber der Tatbestand, dass die absolute Armut besiegt wurde und es in vielen Bereichen [z.B. „Aufbau einer ökologischen Zivilisation“ (chinesische Verfassung)] beeindruckende Ergebnisse gibt, ist nicht im Vorübergehen mit einer Bemerkung über die unbefriedigende Menschenrechtslage klein zu reden. „Die Welt kann sich freuen, das es China gibt“, ist ein geläufiger Satz in den chinesischen Medien. Dieses Selbstbewusstsein scheint Bestand zu haben, von der „inneren Schranke des Kapitalismus“ (Robert Kurz) mit fundamentalen Krisenerscheinungen ist China noch weit entfernt; die KP China ist überzeugt davon, den Kapitalismus weiterhin bei allen ihm immanenten Verwerfungen für einen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt steuern zu können. In den Theoriekreisen der KP Chinas gibt es dies- und weiterbezüglich nichts, was nicht diskutiert wird.
Bei Bedarf auf den obigen Link klicken und dort nach geduldigem Aufenthalt auf die Websites stoßen, auf denen sich – ziemlich bunt – die chinesische Intelligenz über den richtigen Weg streitet.
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Link des Monats August 2024
⇒ Newzorow über die Metamorphose des Homo Sovieticus
Vgl. insbesondere die Sätze bei 3:00 und 4:00 nach dem eingespielten Video, das den „Homo Putinus“ in Aktion zeigt.
Es spricht der russische Dissident Alexander Newzorow, der 2012 zum Wahlkampfteam von Putin gehörte, dann dessen Feind wurde und mittlerweile keinen Sinn mehr darin sehen kann, in Ausschließlichkeit sachlich zu argumentieren, wenn er sich mit dem „Putinismus“ auseinandersetzt. Von dem Link kommt man zu weiteren Kurzbeiträgen des verzweifelten Newzorow.
Sowieso ist nicht die Polemik von Newzorow das Problem, sondern die putinistische Herrschaft. Der russische Nationalismus ist der gefährlichste Nationalismus in Europa – es scheint dort mehr autoritäre Charaktere und Untertanen zu geben als anderswo, eine mögliche Folge davon, dass Russland nie die europäische Aufklärung bis zu einer belastbaren bürgerlichen Republikgründung durchlaufen hat.
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Link des Monats Juli 2024
Jonas Jakobsen, Als Atheist sehne ich mich nach einer Religionsgemeinschaft, in: Nordnorwegische Debatten, 23. Juli 2024.
Der Artikel referiert aus der Sicht eines Atheisten über die Frage, wie man Moral setzen kann; er greift bekannte Begründungszusammenhänge aus der Philosophiegeschichte auf und reibt sich an der Religion. Dabei bringt der Autor seinen geistig-seelischen Konflikt wie folgt auf den Punkt: „Als Atheist sehne ich mich nach einer Religionsgemeinschaft, ohne Teil einer solchen sein zu können.“ Weiter heißt es: „Gebet, Meditation, gemeinsames Singen oder das Feiern von Feiertagen können moralischen Anforderungen eine Ernsthaftigkeit verleihen, die weltlichen moralischen Prinzipien fehlt.“ Der Satz passt gut zum Scheitern der traditionellen Linken, die gelebte Herzensbildung nicht als bewussten Baustein in ihre Strategien integriert hatte.
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Link des Monats Juni 2024
1 Rolling Stones, Gimme Shelter, Studio-Version.
2 Rolling Stones, Gimme Shelter, 1995, Slow.
3 Rolling Stones, Gimme Shelter, ohne Jahresangabe.
4 Rolling Stones, Gimme Shelter, 2003.
5 Rolling Stones, Gimme Shelter, 2016. !
6 Rolling Stones, Gimme Shelter, 2024.
Die Lyrik von „Gimme Shelter“ ist apokalyptisch, die Melodie auch, und beides zusammen ist Apokalypse in Potenz – die diesbezügliche Kraft des Songs ist bei entsprechender Lautstärke so überwältigend, dass der Hörer sich geradezu in eine „Erotik der Apokalypse“ verlieren kann, sozusagen als Erscheinungsform des freudianischen Todestriebs.
Die Links zeigen den Stones-Song in verschiedenen Ausführungen: Link 1 in der vom überragenden Intro getragenen Studio-Version, die hier herausragend mit dem wohl 2023 gedrehten Video korreliert. Danach alles Live: Link 2 in der im langsamen Tempo gespielten Version von 1995; Link 3 mit dem Official Promo Video ohne Jahresangabe; Link 4 mit einer der vielen „best version ever“ von 2003; Link 5 ist von 2016 aus dem Konzertfilm Havana Moon; Link 6 in einer aktuellen, von einem Handy aufgenommenen Live-Version vom 30. Juni 2024.
Als Zugabe eine gelobte Version einer Mädchenband: The School of Rock plays Gimme Shelter with Special guest star Orianthi
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Link der Monate März und April 2024
Bezüglich der Aufklärung über die militärische Lage im Ukrainekrieg gibt es wohl nichts zuverlässigeres als die tägliche Berichterstattung von Denys Davydov (Denys klärt auf). Ebenfalls empfiehlt sich der Kanal Ukraine Matters („Was jetzt zählt, ist die Ukraine“). Der dänische Kanalmoderator Georgi bleibt bei aller Leidenschaft und Polemik analytisch.
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Link des Monats 2024
„Dummkopf mit Glatze“ kann es heißen, wenn reflektierte Linke über den Weimarer KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann sprechen. Der von Thälmann präsentierte Arbeiterbewegungsmarxismus war spätestens mit den Entwicklungen in und nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert; sämtliche Prognosen über die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt, das zugleich einen besseren Menschen darstellt, erwiesen sich als falsch und wurden alsbald zur Horrorvision. Ebenso lag die traditionelle Linke, ob nun sozialdemokratisch oder kommunistisch gefärbt, programmatisch daneben: Man kritisierte die Kapitalisten statt den Kapitalismus. Das war Ausdruck davon, den Kapitalismus nicht verstanden zu haben, denn der Kapitalismus ist viel mehr als nur ein Verteilungsproblem.
Wegen dieser Irrtümer musste man nicht zwangsläufig Apologet einer Gesellschaft werden, deren Selbstzweck es ist, in einem geradezu automatischen Prozess aus Geld stets mehr Geld machen zu müssen. So haben seit den 1980er Jahren verschiedene Wurmfortsätze der von Adorno, Horkheimer und Marcuse definierten Kritischen Theorie an einer Reformulierung radikaler Gesellschaftskritik gearbeitet. Die Wirkungsgeschichte ist bescheiden; kaum etwas hat die öffentlichen Debatten erreicht.
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Links des Monats Januar 2024
Germar Grimsen, Der Salmoxisbote, Philosophische Dreimonatsschrift, 34 Ausgaben, 1993-2002.
In dieser vor gut zwanzig Jahren eingestellten Philosophiezeitschrift, die vollständig online zur Verfügung steht, leiden die Autoren um die Wette (Eigenwerbung: Suizidanten). Auf der Startseite wird über den Begriff Salmoxisbote aufgeklärt, von dort aus sind alle 34 Ausgaben direkt anklickbar. Entweder handelt es sich bei den Aufsätzen, Gedichten und Aphorismen um Eigenarbeiten oder um die Werke (längst) verstorbener Autoren. Die Texte stehen für sich, der Leser erhält keine Vorbemerkung oder Interpretation. Geduld beim Schmöckern kann gefordert sein; irgendwann findet ein am „Da(hin)sein“ (Gohlke) interessierter Leser einen Zugang, und die Lektüre fängt an, Spaß zu machen; die „metaphysische Bedürftigkeit“ (~ Schopenhauer) wird bedient.
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Jens Benicke, Eine Welt voller Untertanen, Audio-Vortrag 2017.
Kann man ohne Kenntnis von dem Verhältnis von „Abstiegsangst und autoritären Charakter“ den globalen Aufschwung autoritärer Politikangebote erklären? Nein, kann man nicht und das mag für die Redaktion von „Emanzipation und Frieden“ ein Grund gewesen sein, angesichts aktueller Entwicklungen diesen sieben Jahren alten Audio-Vortrag wieder nach vorn auf die eigene Website zu setzen. Der Referent Jens Benicke spricht zwar gebrochen, ganz ohne rhetorisches Geschick, aber dafür gibt er eine gelungene Einführung in die „Theorie des autoritären Charakters“. Eingangs zieht es ihn dabei zu Heinrich Manns „Der Untertan“, Marx kommt zu Wort, Freud. Mutter aller umfassenden Autoritätsstudien ist die Faschismusstudie von Adorno, deren Methodeninventar beispielgebend für andere Untersuchungen werden sollte. „Die Gegenstrategien (der liberalen Moderne gegen den autoritären Charakter) mit Aufklärung, Skandalisierung oder Bildung laufen ins Leere“, schreibt der Einladungstext auf der Website der Gruppe „Emanzipation und Frieden“.
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Link des Monats Dezember 2023
⇒ Idealistischer Materialismus
Nick Gietinger, Idealistischer Materialismus. Bruno Latour und die Prämissen einer unkritischen Theorie, Krisis, 19.10.2023.
Leibniz, so heißt es, war der letzte Universalgelehrte; danach scheiterte ein entsprechender Ehrgeiz schlicht an der exponentiell steigenden Menge des Wissens, heißt es auch. Stimmt das? Auf jeden Fall sehen das Positivisten so. Kritische Theoretiker dagegen setzen auf die (die gesellschaftliche Form konstituierenden) Totalitätskategorien, die sie den Erscheinungen voraussetzen – jene Kategorien fungieren sozusagen als Matrix aller Einzelentwicklungen. Und mit diesen Totalitätskategorien (zum Beispiel Ware) kann man dann sehr wohl in universeller Absicht unterwegs sein … – es kommt halt darauf an, so wissen wir seit Horkheimer, diese Totalitätskategorien nicht deterministisch zu verwerten (das führt zum Totalitarismus), sondern kritisch.
Der Autor Nick Gietinger legt dar, warum ein Denken, dass bewusst mit Totalitätskategorien arbeitet und den Mut behält, zwischen Wesen und Erscheinung zu unterscheiden, hoch gehalten werden sollte.
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Link des Monats November 2023
Maria Wölfingsleder, Zum 110. Geburtstag von Albert Camus, Streifzüge, Online 2023.
Zum Absurden, zu Revolte statt Revolution oder zur metaphysischen Ehre schreibt die Autorin nichts … Stattdessen: Camus entwickelte Ideen, „die ihrer Zeit weit voraus waren“. Er sei ein „konsequent undogmatischer Denker. Er lehnte nicht nur jeglichen Totalitarismus und Fanatismus ab, sondern auch jedwede unhinterfragbare Ideoloie, Philosophie. […] Für viele war es bekanntlich schicker, mit Sartre zu irren als mit Camus der Wahrheit näher zu sein.“ Camus wurde, meint Wölfingsleder, von den meisten Linken zur Persona non grata erklärt. Das hätte sich mit 89 geändert.
Wer über einen längst verstorbenen Großen schreibt, der hebt in aller Regel dessen Aktualität hervor. So tut es auch Wölfingsleder und erinnert dabei an Camus Reden von 1957 anlässlich der Verleihung des Nobelpreises: „Jede Generation sieht es als ihre Aufgabe, die Welt neu aufzubauen. […] Die Aufgabe unserer Generation besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.“ Klar, wenn etwas aktuell ist, dann das.
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Link des Monats Oktober 2023
Christian Hofmann, Marxistische Schrumpfkur – eine Kritik an Kohei Saitos Konzept des Degrowth-Kommunismus, Jungle World, 5. Oktober 2023.
Viele halten sich für gebildet, weil sie etwas mit Begriffen wie Nachhaltigkeit, Achtsamkeit oder Ganzheitlichkeit anzufangen wissen. Dieser Artikel gibt eine Ahnung, dass man sich mit dieser Einschätzung täuschen kann. Ohne Totalitätsbegriffe, die sich aus einer zeitgemäßen Lesart der „Kritik der Politischen Ökonomie“ ergeben, bleibt die Welt unverstanden; wer Erkenntnis sucht, kommt mit dem Begriff „Wert“ in Kontakt.
Der Autor Christian Hofmann weiß das und kritisiert das in Japan massenhaft gelesene Buch „Systemsturz“, in welchem der marxistische Philosoph Kohei Saito eine Reduzierung von Konsum und Produktion fordert. Zwar lege Saito komplexe Sachverhalte gut dar und erkenne auch die desaströse und endlose Selbstzweckbewegung, aus Geld mehr Geld machen zu müssen, will das System nicht zusammenbrechen. Aber je tiefer Saito in die Materie eindringt, desto unschärfer würde er. Hofmanns Kritik an Saitos Buch mündet in den nur für Kritische Theoretiker zugänglichen Satz: „Die Arbeit als Substanz des Werts wird nicht berücksichtigt“.
Lesen wir kurz weiter in den Artikel rein: “ […] Der Begriff Wert taucht nur noch als Zerrbild der Marx’schen Analyse auf. […] Saitos Anliegen, die Marx’sche Theorie aus den Fängen des Produktivismus zu befreien, ist dringend geboten. Erst recht gilt dies für sein Bestreben, klarzustellen, dass kapitalistischer Überfluss nicht mit Freiheit oder Wohlstand verwechselt werden darf. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass das Buch zumindest Diskussionen über diese zentralen Einsichten befördert.“
Was lernt ein Leser, der mit solchen Problematisierungen nie etwas zu tun hatte? Will man Erkenntnisse bekommen und das übliche Gerede einzuordnen wissen, kommt man an der Wertkritik, die Hofmann in seinem Artikel nur anschneiden kann, nicht vorbei. Ohne ein Verständnis der Totalitätskategorie Wert kann man nichts neues schaffen, sondern lediglich wiederholen.
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Links des Monats September 2023
Jens Kastner, Blick zurück nach Süden, Jungle World, 31. August 2023.
Die Geschichte der Linken ist ohne ihre Theoriegeschichte nur fragmentarisch zu verstehen. War man in der Theorie lange unterwegs, erträgt man sie in aller Regel nur noch über Sekundärliteratur, die ohne Umschweife auf den Punkt kommt. Dieser Artikel über Antonio Gramsci (1891-1937) ist ein einziger Punkt – vergesst die Systematik des entsprechenden Wikipedia-Artikels. Die von Gramsci geprägten Begriffe „Subalterne“ und „kulturelle Hegemonie“ können vom Leser in ihrer ganzen Reichweite sofort erschlossen werden. Der Hinweis zu Gramscis „Gefängnisheften“ geben dem Leser eine Ahnung, wie seine persönliche Leidensgeschichte ihn geistig beeinflusst haben mag, und die Rolle, die Gramsci den Intellektuellen zuschreibt, zeigt, dass es in der Hochzeit leninistischer Berufsrevolutionäre interessante gedankliche Angebote für einen undogmatischen Linken gab.
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Prüfungsratgeber, 4. September 2023.
Auch ein Lernportal kann Spaß machen. Was ist absurdes Theater? Die Zuschauer sollen die Sinnlosigkeit des Lebens und die Absurdität der Welt erkennen. Es macht frei, sich immer mal wieder an seine Wahrheiten zu erinnern. Die Christen tun das jeden Sonntag.
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Link des Monats August 2023
⇒ Russland: Das Debakel in Afghanistan ist unvergessen
Ulrich Schmid, Von Russland geht ein Gespenst um: die Erinnerung an die Schmach von Afghanistan, Neue Züricher Zeitung, 4. Juli 2023.
Nur Grusel: Vom Zarismus zum Stalinismus zum Putinismus; dazwischen Phasen der Hoffnung. Der Artikel räumt auf mit den Geschichtsrevisionen Putins, ausgehend vom Debakel in Afghanistan. „Der Westen könnte sich noch wundern, wie schnell das Volk von Putin und seiner kriegslüsternen Kamarilla abrückt, wenn ihm das Wasser zum Hals steht“, heißt es im Artikel.
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Links des Monats Juli 2023
⇒ Ostermarsch 2023: Russland raus aus der Ukraine
Lothar Galow-Bergemann, Vorschlag für ein Plakat zum Krieg gegen die Ukraine, 2023.
Wie traditionelle Grafik mit zwei richtigen Forderungen gut harmonieren kann …
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Die Website stoa-heute.de ist schon in ihrem Design stoisch, man kann die klare Gestaltung genießen; dass die Texte in der Regel recht kurz sind, passt dazu. Stets begegnet man Epiktet, Mark Aurel und Seneca, also den klassischen Helden der Stoa. Kritik und Stoizismus passen gut zusammen, von daher ist es unverständlich, dass man auf der Website keine substanziellen Verbindungen zur Frage der Bedeutung von gesellschaftlichen Verhältnissen findet. Das wäre dann so etwas wie ein linker Stoizismus. Tipp: Anfangen mit der Rubrik „Gewinne Abstand von deinen Problemen“ (Startseite runterscrollen).
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Links des Monats Juni 2023
Peter Samol, Narzissmus als Norm. Psychische Deformation in der spätkapitalistischen Gesellschaft, Krisis, 2019.
Seit den Nullerjahren gibt es die Narzissmus-Welle; bei persönlichen Verwerfungen wird schnell zum Narzissmus-Vorwurf gegriffen.
Für den Autor ist Narzissmus eine Reaktion auf die Angst, im Kapitalismus zu scheitern. Erfolgreich seine Ware Arbeitskraft zu verkaufen, sei in unserer Gesellschaft höchstes, unbewusstes Gut. Die in der bürgerlichen Kleinfamilie gelernte Aufstiegsorientierung würde im postfordistischen Zeitalter der allgemeinen Zukunftsunsicherheit zur Manie – Narzissmus sei die logische seelische Deformation der heutigen Zeit.
Sodann agiert der Autor mit Sätzen, die es sich lohnt, zwei Mal zu lesen: „Die Individuen tun alles, um das Gefühl des immer möglichen Abstiegs zu verdrängen, denn es fühlt sich an wie ein Todesurteil.“ „Aus dem Verkauf der Arbeitskraft wird zunehmend der Verkauf der eigenen Persönlichkeit.“ „Ein solches Leben korrespondiert mit intensiven Gefühlen von Leere und von fehlender Authentizität.“
Man sollte diesen Aufsatz nur lesen, wenn man geübt ist in der Verdauung radikaler Gesellschaftskritik. Sonst meldet sich beim Leser Ohnmacht. Der Autor agiert auf Grundlage der Erkenntnisse der kritischen Theorie zur Psychoanalyse und der Erkenntnisse der wertkritischen Arbeitskritik (vgl.: Manifest gegen die Arbeit). Dass Arbeit selbst in der Form der Lohnarbeit nicht immer als Ungetüm empfunden wird, sondern zuweilen auch als sozialer Konstituierungsprozess und als lebenswerte betriebliche Identität, ist bei radikalen Arbeitskritikern lediglich auf das falsche Bewusstsein der Lohnarbeitenden zurückzuführen – mit dieser Radikalität gibt es wenig Raum für Zwischentöne. Selbiges merkt man auch diesem Aufsatz an.
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Jörn Schulz, Engere Grenzen, Jungle World, 1. Juni 2023.
Wer das staatliche Gewaltmonopol ausschließlich als eine zivilisatorische Leistung sieht, wird hier möglicherweise zum Nachdenken gebracht. Der Autor schreibt mit einem feinen Hass auf den Kapitalismus, so heißt es im Untertitel seines Artikels: „Was interessiert mich der Dax …“ Dass Militanz sinnige gesellschaftliche Entwicklungen nach sich ziehen kann, glaubt der Autor am Beispiel der militanten Anti-AKW-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre zu sehen: Ohne sie hätten wir heute immer noch eine Zukunft mit Atomkraftwerken.
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Links des Monats Mai 2023
⇒ Meine Ende und das Ende der Welt
Reimer Gronemeyer, Die Sorge um mich … Mein Ende und das Ende der Welt: das radikalisierte Individuum, Streifzüge 86, 2023.
Der 83-jährige Autor sorgt sich angesichts seiner näher rückenden Endlichkeit um den gesellschaftlichen Umgang mit den Schwachen, explizit den Alten. Die Probleme lägen tiefer als lediglich in der Frage der materiellen Ausstattung von Altenheimen und Hospizen; das Problem sei, dass auch die Altenpfleger oft ein „radikalisiertes Individuum“ sind, das „die Welt nur als Ressource zur Befriedigung seiner Bedürfnisse sieht“ – die Hospizbewegung müsse sich an ihre „zivilgesellschaftlichen Wurzeln“ erinnern, sie brauchte Menschen, die sich „von Natur aus“ sorgen. Der Autor stellt Kontexte zur globalen ökologischen Krise her.
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⇒ Magazin
Das konspirationistische Manifest, 2022.
Wer Lust hat, etwas richtig abgedrehtes zu lesen, der ist hier richtig. Verschwörungstheoretisches in Potenz; eine Mischung aus Verfolgungswahn und Welterklärung – nur die ehemalige „Marxistische Gruppe“ (heute Zeitschrift Gegenstandpunkt) verstand diese spezifische Form der Todesangst besser. Blind lesen sei empfohlen, man sollte nicht jeden Satz verstehen wollen – hinter dem Geschriebenen steht keine hohe Komplexität, sondern geistiges Durcheinander.